7172
Regalsystem

Funktional und puristisch

Vielfältige Einsatzmöglichkeiten und eine auf das Wesentliche reduzierte Ästhetik sind kennzeichnend für das Regalsystem 7172 der Schreiner und Architekten Robert Kern und Thomas Kandler. Als Regal oder Raumtrennelement kann es ebenso eingesetzt werden wie als raumbildende Struktur in Büros, Messe- und Ladenbauten. Sowohl sein Erscheinungsbild als auch seine Flexibilität basieren auf einem von den beiden eigens hierfür entwickelten Beschlag. Dieser ermöglicht eine feste, bei Bedarf dennoch leicht wieder lösbare Verbindung.

Zusammen mit Sonja Kern, Bernhard und Claudia Seidl betreibt Robert Kern (im Bild rechts) nahe München das Büro seidl kern Architekten. Thomas Kandler (links) gründete in München die Möbel-Schreinerei thomas kandler moebel. Beide lernten sich im gemeinsamen Architekturstudium kennen.

DETAIL INSIDE INTERVIEW

Sie arbeiten seit Langem eng zusammen und haben beide eine ausgeprägte Vorliebe für das Material Holz. Entstanden die Vorläufer des Regalsystems 7172 im Zuge eines konkreten Projekts oder sind sie Resultat Ihrer Experimentierfreudigkeit?

Robert Kern: Wir sind beide vor allem im Wohnbereich tätig und da kommt es oft vor, dass wir nach maßgeschneiderten Lösungen gefragt werden — insbesondere für Küchen, manchmal aber auch für Einbaumöbel und Regale. Vor einigen Jahren hatte mein Architekturbüro einen Auftraggeber, der eine große Sammlung schöner alter Bücher besaß. Er wollte ein makellos weißes Regal, das von Wand zu Wand und von der Decke bis zum Boden reichen sollte. Dabei sollten nirgendwo Schrauben, Befestigungen, Auflagerpunkte zu sehen sein, um so die Bücher bestmöglich in Szene zu setzen. Wir durchsuchten das Angebot unzähliger Hersteller nach Lösungen zum Bau eines solchen Regals, wurden aber nicht fündig.

DETAIL INSIDE INTERVIEW

Also haben Sie selbst ein Regal entworfen?

Robert Kern: Genau. Grundlage war der eigens hierfür entwickelte Keilverbinder der eine Aluminiumschiene und Keilhülsen nach dem Prinzip einer traditionellen Schwalbenschwanz-Holzverbindung miteinander verbindet. Dieser Beschlag ermöglicht nicht nur die verdeckte Montage von Regalböden und Seitenteilen, sondern eine zug- und druckfeste und zudem leicht ohne Werkzeug wieder lösbare Verbindung. Die exakte Form der Polymerkunststoffhülsen und der entsprechenden Spritzgusswerkzeuge haben wir zusammen mit einem befreundeten Maschinenbauer entwickelt.

Bestandteile: Seitenteile mit Keilhülsen, Boden mit Aluminiumschienen, farbige Ader

Regalsystem 7172 als Raumtrennelement

DETAIL INSIDE INTERVIEW

Können Sie kurz das Funktionsprinzip und die Einstellmöglichkeiten des Keilverbinders erläutern?

Thomas Kandler: Je fester die Senkkopfschrauben der Keilhülsen vor Montage der Regalböden angezogen werden, desto mehr wird die Hülse auseinandergedrückt und desto größer ist die Klemmwirkung. Je nachdem, wie fest man sie anzieht, sind die Böden eher leichtgängig beweglich oder kaum mehr verschiebbar. Heute ist der Keilverbinder patentiert und mit unterschiedlich langen Aluminiumschienen über das Vertriebsnetz von Häfele erhältlich. Damit haben wir offenbar den Nerv der Zeit getroffen: Schon nach zwei Jahren im Angebot galt er als das erfolgreichste Neuprodukt.

DETAIL INSIDE INTERVIEW

Wie ging es nach dem ersten realisierten Projekt
weiter?

Thomas Kandler: Natürlich sahen wir sofort die besonderen Qualitäten, Freiheiten und Chancen, die der Beschlag weit über die verdeckte Montage hinaus bietet. Und dank der Möglichkeit, neue Ideen und das Feed-back unserer Kunden schnell und direkt in eigenen Werkstätten umsetzen zu können, entstanden rasch zahlreiche Prototypen, Funktionsmodelle und Praxisanwendungen. Hilfreich in diesem Zusammenhang war die Tatsache, dass sich die Seitenteile und Böden effizient und einfach fertigen lassen. Mit der Zeit entstand eine ganze Produktpalette, die wir bis heute selbst vertreiben und stetig weiterentwickeln.

DETAIL INSIDE INTERVIEW

Wie sieht diese Produktpalette aus?

Robert Kern: Standardmäßig umfasst sie drei gleich hohe und tiefe Regalmodule aus schwarzem CDF-Holzwerkstoff in unterschiedlichen Breiten: Je nach individuellen Bedürfnissen sind auf Grundlage dieses Systems darüber hinaus prinzipiell natürlich unzählige andere Größen-, Material- und Farbvarianten, aber auch neue Möbeltypen denkbar.

DETAIL INSIDE INTERVIEW

Was unterscheidet dieses Regalsystem von konventionellen Regalen?

Thomas Kandler: Neben der Tatsache, dass keine Beschläge zu sehen sind, liegt eine wesentliche Besonderheit in seiner Ungerichtetheit. Das heißt, ein und dasselbe Regalmodul kann dank der kraftschlüssigen Verbindung sowohl stehend als auch liegend eingesetzt werden. Aus dem gleichen Grund sind schließlich auch weit auskragende Böden, etwa für kleine Arbeitsplätze oder Warenpräsentationen, möglich. Dennoch lassen sich sämtliche Böden jederzeit schnell und einfach versetzen, ohne dass hierfür etwa die Seitenteile zu lösen sind. Robert Kern: Die Regalböden verfügen zudem über eine rechtwinklige, vierseitig umlaufende Nut. Die beiden seitlichen Nuten

dienen der Befestigung der Aluminiumschienen, während die Nuten an den Vorder- und Hinterkanten vielfältige Funktions- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Beispielsweise können in diese „Multinut“ schmale Einlagen, die wir „Adern“ nennen, eingefügt werden. Sie verleihen dem Regal Farbakzente oder enthalten Beschriftungen, Ordnungs- und Orientierungssysteme. Möglich sind aber auch Akustik- und Rückwandelemente aus Holz oder Filz, die exakt ein Feld abdecken. Sie dienen als Sichtschutz und / oder zusätzliche Aussteifung. All diese Elemente sind passgenau so zugeschnitten, dass sie fest in der Nut klemmen und dennoch jederzeit ohne Werkzeug umgesteckt werden können.

DETAIL INSIDE INTERVIEW

Damit lässt sich das Regal grundsätzlich gleichzeitig von beiden Seiten nutzen, etwa als Raumteiler?

Thomas Kandler: Richtig. Es gibt keine Vorder- und Rückseiten. Beide Seiten sind genau gleich ausgeführt und sämtliche Elemente lassen sich jederzeit an einer Stelle herausnehmen und anderswo wieder einstecken. Dadurch kann das Regal gewissermaßen mit-wachsen und sich an individuelle Bedürfnisse anpassen. So könnte es mit vielen bunten Adern zunächst in einem Kinderzimmer stehen, dann mit Eichenholz-Adern um 90° gedreht als Sideboard im Wohnzimmer und später mit Beschriftungen und Akustikfilzen in einem Büro.

DETAIL INSIDE INTERVIEW

Haben Sie bereits Ideen für Weiterentwicklungen des Regalssystems?

Thomas Kandler: Wir experimentieren gerade mit dem Holzwerkstoff CDF des Schweizer Produzenten SWISS KRONO AG, der über wesentlich höhere Festigkeitswerte als andere Plattenwerkstoffe verfügt. So können wir beispielsweise die Wandstärke der Seitenteile auf lediglich 12 mm reduzieren und die Hülsenschrauben finden noch immer genügend Halt. Noch einen Schritt weiter gehen wir mit einem Prototyp, bei dem wir ganz auf die Aluminiumschienen verzichten und stattdessen eine schwalbenschwanzförmige Nut direkt in die CDF-Regalböden einfräsen. Dies ermöglicht wegen der entfallenden Aluminiumschienen prinzipiell noch wirtschaftlichere Lösungen. RK: Auch wenn diese Entwicklung noch nicht serienreif ist, steht fest: Schlichte, funktionale Oberflächen und ein gewisser optischer Purismus, der die nicht sichtbaren Verbindungsmittel einschließt, werden auch die künftigen Generationen unseres Regalsystems prägen.

Dank des Keilverbinders sind auch auskragende Regalböden möglich.

Roland Pawlitschko ist Architekt, freier Autor, Redakteur und Architekturkritiker. Das Interview mit Thomas Kandler und Robert Kern führte er in München.
DETAIL inside AUSGABE 02 | 19 / Zeitschrift für Innenraumgestaltung und Architektur